Lech am Arlberg (1.Teil)
Ein Platz zum Wohlfühlen – Lech am Arlberg
Auf der Suche nach den Quellen seiner Ausstrahlung
Beginnen wir ganz am Anfang. Seit die ersten Walser ihre angestammte Heimat, das Wallis in der heutigen Schweiz, verließen und das oberste Lechtal besiedelten, sind mehr als 700 Jahre vergangen. Es war um 1300, zu Beginn des Spätmittelalters: Die Europäer hatten die Erde noch nicht erforscht, viele glaubten, sie sei eine Scheibe, um die sich die Sonne dreht; fast 200 Jahre mussten noch vergehen ehe die Neuzeit begann, und die Seefahrer und Gelehrten die abend ländische Welt veränderten. Erst 1492 landete Kolumbus mit seiner Mannschaft auf den Bahamas in der Karibik. Mit diesem Datum setzen wir den Anfang der Neuzeit an. – War der Zug der Walser im Mittelalter schon eine Ankündigung des kommenden Zeitalters der Entdeckungen ?
Für die Walser Einwanderer war es in der damaligen Zeit eine schier unlösbare Herausforderung in dieser Bergwildnis zu leben – das Hochtal liegt immerhin auf einer durchschnittlichen Höhe von 1.500 Metern.. Daher bekamen die Siedler von den Grundherrn besondere Rechte zugesprochen: Sie waren freie Bauern und konnten ihr Gemeinwesen selbst verwalten, und sie hatten auch ihr eigenes Gericht, das Walsergericht Tannberg – eine glückliche Fügung für alle späteren Generationen.
Über 600 Jahre kämpften die Walser Bauern gegen die unbamherzigen Lebensbedingungen, vor allem in den Wintermonaten. Zwischen der Mitte des 18.Jahrhunderts und dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts pendelte die Bevölkerungszahl von Lech zwischen 300 und 400, mehr konnte der verfügbare Boden nicht ernähren. Erst der Bau der Flexenstraße (1895 bis 1900) und der dadurch ansteigende Fremdenverkehr verbesserten die Lebensbedingungen. Nun konnten die Walser die Früchte ihres langen Darbens ernten. In der Zwischenkriegszeit des vorigen Jahrhunderts verdoppelte sich die Bevölkerung, und nach dem 2.Weltkrieg, ab den 50er-Jahren, nochmals.
Heute zählt Lech rund 1.800 Einwohner und verzeichnet mit dem Ortseil Zürs zusammen über 8.000 Gästebetten und mehr als 1 Million Nächtigungen.
Lech heißt der Ort offiziell erst seit etwa 140 Jahren, vorher hieß er Tannberg am Lech, so hieß auch das ehemalige Gericht. Um den Schlegelkopf herum erstreckt sich heute der Ortsteil Tannberg, genau dort wo die Walser eine ihrer ältesten Ansiedlungen gründeten – den Weiler Tannberg.
Ein weltbekannter Berg, der gar kein Berg ist – der Arlberg
Wer kennt es nicht, das Arlberggebiet? Wanderer und Bergsteiger zieht es hierher, und die Augen jedes Schifahrers beginnen schon zu leuchten, wenn nur der Name genannt wird – für viele ist es „das“ Mekka des Schilaufs. Es gibt zwar einen Arlbergpass, 1.793 Meter hoch, aber keinen Gipfel dieses Namens. Arlberg ist der Berg der Arlen, eine Latschenart, die in dieser Gegend sehr häufig ist – daher der Name. In früheren Zeiten stiegen die Menschen nicht auf die Berggipfel, sie wollten nur möglichst einfach über die Berge hinwegkommen, daher meinten die Walser wahrscheinlich mit „Arlberg“ den Pass, den Übergang auf die östliche Seite des Gebirges.
Die vier bekanntesten Orte, die den attraktiven Zusatz „am Arlberg“ in ihrem Namen führen sind: St. Anton und St.Christoph auf der Tiroler Seite des Passes, und Lech mit Zürs auf der Vorarlberger, also „vor dem Arlberg“.
Und welchem Ort gebührt die Krone? Jetzt ist das Herz, nicht der Verstand gefragt. Versuchen wir es mit einer Analogie: da ist die „weise“ Königin Lech mit ihrer „mondänen“ Tochter Zürs, dann der etwas „rauhe“ Bruder der Königin, der Fürst St.Anton und schließlich der „exzentrische“ Graf St.Christoph.
Die Bauern von Lech
Wenn man nur die aufwendig gestalteten Prospekte der Lech-Zürs Tourismus GmbH kennt, darin blättert und über die Arlberg-Schiarenen mit den vielen Liften, Seilbahnen, Veranstaltungen, Hotels, Restaurants liest, dann erwartet man eine perfekt organisierte Fremdenverkehrs-Maschinerie und fährt schon alleine deswegen hin, weil man solch großartige Schigebiete nebeneinander anderswo nicht so leicht findet.
Der Erstling wird bei seiner Ankunft in Lech annähernd das vorfinden, was ihm die Werbekataloge angekündigt haben – und doch, da ist noch etwas, was sich die meisten nicht erklären können, das jedoch auf den Ankömmling langsam einzuwirken beginnt und ihn später immer wieder hierher zieht. Wahrscheinlich hat Lech im Vergleich mit anderen Schiorten prozentuell zu seinen Besuchern die meisten Stammgäste, über siebentausend kommen seit 10 und immerhin noch über zweihundert seit 45 Jahren hierher.
Warum? Es gibt Schiorte, die höher liegen und weitläufiger sind, mit ausgefallenen Spektakeln und mit pompösen „Events“ protzen.
Der Reiz Lechs liegt woanders. Da wirkt eine Austrahlung auf den Besucher, die von den hier lebenden Menschen ausgeht, denen es gelungen ist, die rechte Balance zwischen Modernität und Tradition zu finden. Und die in den vergangenen sechszig Jahren die Expansion der Aufstiegshilfen und Bettenzahl mit der ihnen eigenen Besonnenheit betrieben haben. In Lech stehen noch keine Hochhäuser, und noch können die Abfahrtspisten die Schifahrer aufnehmen, die von den Liften und Seilbahnen auf den Berg befördert werden. Am Weg sind da noch einige gemütliche Schihütten, die man gerne immer wieder aufsucht, bei Sonnenschein sitzt man auf der Terasse und wenns schneit drinnen beim Kachelofen – ja, auch das gibts hier noch. Lech ist kein Luxus-Disney-Land, sondern es ist immer noch ein Gebirgsdorf. Und in einem Dorf gehen die Uhren anders, als in der „großen“ Welt, anders als in den Megastädten, wo kurzfristiges Profitdenken die Norm ist.
Kaum eine große Geschichte kommt ohne weise Männer und Frauen aus. Weisheit, ein anspruchsvolles Wort – Lebenserfahrung, verbunden mit Klugheit, gehört dazu, Anteilnahme am Schicksal der Anderen, Urteilsvermögen und Erkennen der eigenen Beschränkungen.
Das alles sind Tugenden, die sich der Walser Bauer in Generationen erworben hat, als er seine Ohnmacht gegenüber den Naturgewalten erlebt und daher Veränderungen eher bedächtig als radikal durchgeführt hat. Es ist diese bäuerliche Gesinnung, die Lech davor bewahrt hat, sich den phantasielosen Klischees der typisierenden Marketingindustrie zu unterwerfen und zu einem
Alpenvergnügungspark zu degenerieren. Es sind die langen Winter mit den Schneestürmen und Lawinen gewesen, die Seuchen und die harte Arbeit auf den Bergwiesen, welche die Bauern hat zusammenrücken lassen. Das Voneinanderabhängigsein hat ihre Wertschätzung der Familie und dem Einzelnen gegenüber reifen und eine demokratische Gemeinschaft entstehen lassen. In der Abgeschiedenheit der Hochtäler sind sie zu Universalisten herangereift, die ihre Aufgaben und Entscheidungen weitestgehend ohne fremde Einflüsterer erledigen können, und die ihrer Verantwortung späteren Generationen gegenüber instinktiv nachkommen. Noch etwas ist Teil der Geschichte der Walser Bauern: Der Kirchturm in Lech ist Ende des 14. Jahrhunderts von den Walsern gebaut worden. Etwa hundert Jahre vorher kamen die ersten von ihnen ins Lechtal, – und trotz der dürftigen Lebensweise bauten sie „ihre“ Kirche, die sie durch die Jahrhunderte begleitet und ihnen geholfen hat, vor allem in kritischen Zeiten, immer wieder auszuharren und zu überleben.
Daheim sein im Lechtal
Es schneit ziemlich ergiebig, und der Fahrer legt an seinen BMW Schneeketten an, so steil ist der Fahrweg hinauf zum Hotel Angela. Das schmucke Haus liegt oberhalb von Lech, mitten auf der Schipiste des Schlegelkopfliftes, genau dort, wo früher der Bauernhof der Walchs stand.
„Der Opa passt gerade auf unsere Kleine auf“, empfängt mich die Juniorchefin, „aber ich hol ihn gleich.“ Und da ist er schon, der Seniorchef. Dann sitzen wir in der Bibliothek zusammen, und Elmar Walch hat soviel zu erzählen, dass wir garnicht merken, wie schnell die Zeit vergeht.
Geboren 1928, in einer Zeit, als in Lech und Zürs zwar schon Schilauf betrieben wurde, die Schischule Lech wurde bereits 1925 egründet, es gab jedoch keine Lifte und im Winter war die beiden Orte oft wochenlang eingeschneit.
Zu Weihnachten 1950 gelang es erstmals mit Hilfe einer kleinen Schneefräse und vielen Schauflern, die Straße von Lech nach Zürs für den Autoverkehr freizumachen. In Lawinenkegeln war die Schneehöhe oft so hoch, dass in Stufen hochgeschaufelt werden musste, der unterste Mann schaufelte auf die erste Stufe hinauf, und erst der letzte konnte den Schnee über die senkrechte Wand hinauswerfen. Nun konnten die Autos auch im Winter bis Lech fahren; das war dann auch das Ende der Schlittenfahrten nach Langen. Die Hoteliers pflegten ihre Gäste mit Pferdeschlitten vom Bahnhof in Langen abzuholen, und bei ruhigem Wetter war das dann eine romantische Angelegenheit, eingehüllt in wärmende Decken mit Schellengeläut über die verschneite Flexenstraße nach Lech zu gleiten. Bei stürmischer Witterung und tiefem Neuschnee war die viele Stunden dauernde Fahrt jedoch eine frostige und gefährliche Geschichte.
Auch Elmar Walch war oft mit seinem Schlittengespann unten in Langen, um Gäste abzuholen. 1949 trat er dann in die Schischule Lech ein, 1960 übernahm er den elterlichen Bauernhof, und von 1968 an leitete er 20 Jahre lang die Schischule. Eines Tages spielte beim Grasmähen sein Herz nicht mehr mit, ohnmächtig lag er in der Wiese, und als ihn der Arzt im Krankenhaus behalten wollte, war sein einziger Gedanke: Er könne jetzt nicht im Spital bleiben, er müsse doch daheim heuen. Das war 1973; er musste all sein Vieh verkaufen und den Hof verpachten.
Es sind schon fast sechszig Jahre her. Die Geschichte trug sich in Zug zu, einem Ortsteil von Lech im hinteren Lechtal. Schuld daran war eine Lawine, die den Kuhstall eines Bauern beinahe eindrückte. Hinaus in die Schneewüste konnten die Tiere nicht, da wären sie erfroren.
Elmar Walch meinte, ohne lange nachzudenken: „Da müssen wir hin und den Stall abstützen.“ Und so schlugen sie sich auf Schiern nach Zug durch – mit dabei waren noch sein Onkel Josef Schneider, der Bürgermeister Gebhard Jochum und der Gendarm Birnbaumer – und halfen dem Bauern beim Abstützen der Stalldecke.
„Ob der Berta was passiert ist“, meinte da einer von ihnen, „und ob sie noch genug zu essen hätte?“
Mit der Berta meinten sie die Berta Plonner, die mutterseelenallein im Älpele, weiter hinten im Lechtal, wohnte. Die Berta ist eine Lecher Institution gewesen. Dabei war sie garkeine Einheimische, sie kam aus Südtirol und bewirtschaftete viele Jahre gemeinsam mit ihrem Mann die Göppinger-Hütte. Als die zwei das nicht mehr schafften, zogen sie 700 Meter tiefer ins Lechtal hinunter und wohnten im Älpele. Dort wo auch die Talstation der Materialseilbahn stand, mit der sie all die Jahre die Göppinger-Hütte versorgen konnten. So ganz wollten sie „ihre“ Hütte nun doch nicht aus den Augen verlieren. Nach dem Tod ihres Mannes blieb die Berta alleine im Älpele.
Und so spurte die Gruppe mit einem Sack Lebensmitteln die paar Kilometer taleinwärts. Die Eingangstür ins Haus war zugeschneit, und gerade als sie mit dem Freischaufeln beginnen wollten, kam die Berta durch ein Dachfenster aus dem Haus herausgekrochen. Es war nichts passiert, doch solch ein Erlebnis vergisst man trotzdem nicht.
Die Berta machte weiter ihren Kräuterschnaps, und jahrelang pilgerten Lecher Gäste aller Provenienz zur „Kräuterhexe“, wie sie ihre Besucher liebevoll nannten, um mit ihr zu plaudern und einen Schnaps, – oder auch mehrere, zu trinken.
Das alles und noch mehr kann Elmar Walch erzählen, – und man könnte ihm stundenlang zuhören. Er spricht in einem selbstbewussten Ton, bescheiden, nie überheblich, wie einer, der sich seiner Sache sicher ist. Er hat seinen Mann gestanden: Als Schilehrer, Hotelier, Leiter der Schischule und bei den Verpflichtungen, die er für die Gemeinde übernahm, er war 15 Jahre im Gemeindevorstand – und ist doch immer ein Walser Bauer geblieben.
Zwei Wochen verbrachte er einmal im Wallis in der Westschweiz, um die Welt zu erleben, aus der seine Vorfahren vor über 700 Jahren weggezogen waren. Mit einem Gomser Bauern unterhielt er sich im Walser Dialekt, sodass dieser meinte, er sei von irgendeinem Hof aus der Umgebung.
Die Walser binden ihre Heuballen mit einem Seil zusammen, im Gegensatz zu den meisten anderen Gebirgsbauern, die das Heu zum Abtransport in ein Tuch packen. Als Hilfe beim Zusammenschnüren verwenden die Walser dazu eine „Trüa“, das ist ein sogenanntes Seilholz, das beim Festknoten des Stricks hilft – und genau das gleiche Holz gebrauchen die Bergbauern im Wallis, und sie geben dem Stück auch denselben Namen. Für einen traditionsbewussten Menschen, der viele hundert Jahre in die Geschichte seiner Vorfahren zurückgeht, ist es ein bedeutungsvolles Ereignis, den Beweis für seine Herkunft in eben dieser Gegend selbst erleben zu können.
Franz Haslinger, Lech im Jänner 2010
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